Bevor wir Sie durch die Choralkantaten Jahrgang führen, möchten wir eine wichtige Ausgangsfrage beantworten: Was ist eigentlich eine Choralkantate? Die kurze Antwort: Eine Choralkantate ist eine Kantate, die auf einem bestehenden Kirchenlied basiert. Aber dazu gibt es ein wenig mehr zu sagen, als Einleitung.
Choräle als Grundlage für Kantaten
Im Juni 1723 begann Johann Sebastian Bach als Kantor an der Thomaskirche in Leipzig. Von da an schrieb er wöchentlich eine Kantate. Darin wurde die Bibellesung des jeweiligen Sonntags als musikalische Predigt in moderner Form erläutert, mit Arien und Rezitativen, die zu dieser Zeit in der Oper sehr beliebt waren. Die Kantaten hatten einen festen Platz in der Liturgie, nämlich nach der Evangeliumslesung und vor der Predigt. In seinem zweiten Amtsjahr, ab Juni 1724, verfolgte er ein neues Rezept. Nicht mehr ein Bibeltext stand im Mittelpunkt, sondern jede der 40 Kantaten in diesem Zyklus basierte nun auf einem bekannten Kirchenlied. In diesen so genannten Choralkantaten scheint die Erläuterung des jeweiligen Liedes das Hauptziel gewesen zu sein. Nicht weniger als acht Lieder stammen von Luther selbst aus dem Jahr 1524, wie Aus tiefer Not schrei ich zu dir (BWV 38) und Mit Fried und Freud, ich fahr‘ dahin (BWV 125), und auch der Lobgesang Marias aus seiner deutschen Bibelübersetzung wurde zu einer Choralkantate Meine Seel erhebt den Herren (BWV 10) umgearbeitet. Aber auch andere bekannte alte Lieder, wie Wer nur den lieben Gott läst walten (BWV 93), sind Teil der diesjährigen Reihe.
Spezielle Struktur der Choralkantate
Wer sich mit den Texten von Johann Sebastian Bachs Choralkantaten befasst, erkennt schnell seinen besonderen Ansatz bei diesen ‚Jahrgang‘ Kantaten aus seinem zweiten Leipziger Amtsjahr. In diesen 40 Kantaten, die zwischen Juni 1724 und März 1725 entstanden, ist die Textgrundlage nicht die sonntägliche Bibellesung, wie in seinem ersten Jahrgang, sondern ein lutherisches Kirchenlied. Der (unbekannte) Textdichter behielt die erste und letzte Strophe des Liedes in jedem Kantatentext bei. Aus der ersten Strophe formte Bach den Eingangschor, in dem er den Charakter des Liedes zum Ausdruck brachte. Und die letzte Strophe des Liedes versah er mit einer einfachen vierstimmigen Vertonung der bekannten Melodie als Schlusschoral der Kantate. Die Zwischenstrophen des Liedes gestaltete er zu Rezitativen und Arien um. Deren Texte wurden vom Textdichter so umgeschrieben, dass die teilweise sehr kompakte, gereimte Poesie des Liedes grammatikalisch neu geordnet wurde, um den Inhalt verständlicher zu machen. Darüber hinaus gab dies Bach mehr Raum, um barocke Themen wie Kampf, Teufel und Hölle musikalisch auszudrücken, aber auch um zu betonen, wie Trost im Glauben gefunden werden kann.
Nach dem Neumeister-Modell
Das Modell der Kantate des 18. Jahrhunderts wurde von dem Dichter und Theologen Erdmann Neumeister (1671-1756), Prediger in Hamburg, entwickelt. Er selbst schrieb zahlreiche Kantatentexte mit Rezitativen und Arien nach dem Vorbild der damals populären Oper. Dies führte zwar zu Diskussionen, da der Kirchenvorstand verhindern wollte, dass der Gottesdienst zu sehr nach Oper aussah. Andererseits konnten diese volkstümlichen Elemente als musikalische Bildungspredigten eine gute Rolle spielen, wenn die geweckten Emotionen den Zuhörer zu einem richtigen Glaubenserlebnis anregten.
Liedauswahl
Bei diesen Choralkantaten handelt es sich hauptsächlich um die ältesten protestantischen Kirchenlieder. Der Schwerpunkt der Liedauswahl liegt auf der frühen Zeit der Reformation und der zweiten Hälfte des 17. Die Zeit des Dreißigjährigen Krieges wird übersprungen – es gibt nur eine Kantate, die auf einem Lied von Paul Gerhardt basiert – und auch Lieder von Bachs Zeitgenossen fehlen.
Abgesehen vom Marienlob besteht der Choralkantatenzyklus aus 22 Kantaten mit einem Lied aus dem 16. Jahrhundert, davon 12 aus der Frühzeit der Reformation, und einer Gruppe von 17 Kantaten mit einem Lied aus dem 17. Jahrhundert, davon acht aus der ersten und neun aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts.
Bach und das Kirchenlied
Dass das Kirchenlied für Bach ein treuer Lebensbegleiter war, findet sich überall in seinen Kompositionen wieder. Auch in anderen Kantaten, Passionen und Oratorien hat er Strophen aus bekannten Kirchenliedern verarbeitet. Auf dem Kerkliedwiki finden Sie ein Verzeichnis der Kirchenlieder in Bachs Werken, das, wenn möglich, auch einen Link zu einer Übersetzung des deutschen Liedes in niederländische Gesangbücher enthält.