Die Kantaten der Choralkantaten-Sammlung von 1724/25 folgen einem festen Aufbau, bei dem die erste und letzte Strophe des Liedes wörtlich übernommen und die Texte der dazwischen liegenden Strophen als Arien und Rezitative umgeschrieben werden. Dies gilt für alle Choralkantaten, mit Ausnahme von Was willst du dich betrüben (BWV 107), einem Lied von Johann Heermann (1585-1647) aus dem Jahr 1630. Diese Kantate enthält den vollständigen Text aller Strophen, ohne neuen Text oder Erläuterungen. Zwischen dem Eingangschor und dem Schlusschoral wurden jedoch die Texte der inneren Strophen musikalisch zu einem Rezitativ und vier Arien umgearbeitet. Diese „per omnes versus“-Struktur wurde auch in Bachs früher Kantate Christ lag in Todesbanden (BWV 4) verwendet.
Der ursprüngliche Liedtext
Die Quelle des Liedtextes ist die Sammlung Devoti Musica Cordis, die 1630 von Heermann veröffentlicht wurde. Aber …. dieser Text unterscheidet sich erheblich vom Text der Kantate. Außerdem hat Heermanns ursprüngliches Lied sechs Strophen, während die Kantate sieben hat. Die Forscher haben natürlich alle bekannten in Leipzig verwendeten Gesangbücher studiert, aber sie enthalten nicht die Quelle des Kantatentextes. Martin Petzoldt hat in seinem Bach-Kommentar (Band 1, S.158) einen Fundort im Krankenhausgesangbuches von St. Georg in Leipzig (1721, 1730) aufgeführt, aber auch dieser enthält einige Abweichungen vom Kantatentext. Petzoldt stellt aber auch das Halberstädtische Gesang=Buch (1715) vor, das in der lutherischen Gemeinde St. Agnus in Köthen, zu der Bach gehörte, verwendet wurde. Und nur dieser Band enthält, von drei ganz minimalen Abweichungen abgesehen, exakt den Text der Kantate, einschließlich der siebten Strophe.

Petzoldt weist auf diese kleinen Textunterschiede in der letzten Strophe „Herr, gib daß deine Ehre ich ja mein leben lang“ hin. Ein Hinweis von Dick Wursten (danke!) führte mich zum Hannoverschen Gesangbuch (1673), in dem der Text genau wie in der Kantate erscheint. Dort wurde diese Lobpreisstrophe zu einer Reimung von Psalm 34 (Ich will zu aller Stunden / Gottes Preis erheben) hinzugefügt, die ebenfalls auf die Melodie „Von Gott will ich nicht lassen“ gesungen wurde.
Aber dieser Tipp brachte mich auf die nächste Spur. Dieses Hannoversche Gesangbuch wurde nämlich in Lüneburg gedruckt. Und wie sich herausstellt, hat derselbe Drucker Stern im Jahr 1702, dem Jahr, in dem Bach dort lebte, ein neues Lüneburgisches Gesangbuch herausgegeben. Und auch darin mit diesem Text (siehe das Bild).

Die Hymnologen des 18. Jahrhunderts
Interessanterweise wird dieses Lied von keinem der wichtigen Hymnologen des frühen 18. Jahrhunderts behandelt. Es erscheint weder in den Sammlungen von Johann Christoph Olearius und Johan Martin Schamel, noch wird es in Gabriel Wimmers späterer vierbändiger Ausgabe Ausführliche Liedererklärung von 1749 berücksichtigt. Lediglich in David Heermanns Erklärter Lieder=Schatz von 1722 finden wir das Lied mit einigen kurzen Anmerkungen, die aber die Originalfassung aus Devoti Musica Cordis enthalten. (Für einen Vergleich zwischen diesem Text und dem Kantatentext siehe das hymnologische Dossier zu dieser Kantate).
Es scheint also keinen direkten Zusammenhang zwischen der Würdigung und Kommentierung dieses Liedes durch die Hymnologen und seiner Aufnahme in die Choralkantaten des Jahres zu geben.

Biographische Daten
Die Tatsache, dass das Lied mit dem gleichen Text wie die Kantate im Gesangbuch der Lutheraner in Köthen erscheint, brachte mich auf die Idee, Bachs biographische Daten daneben zu stellen. Wie im Nekrolog beschrieben, kam Bach im Juli 1720 von einer zweimonatigen Reise nach Karlsbad mit seinem Prinzen Leopold und dem Orchester nach Hause und erhielt zu diesem Zeitpunkt die erschreckende Nachricht vom völlig unerwarteten Tod seiner Frau Maria Barbara. Tatsächlich war sie zu diesem Zeitpunkt bereits am 7. Juli beerdigt worden. Dies muss ein sehr traumatisches Erlebnis für ihn gewesen sein, da sie bei seiner Abreise noch völlig gesund war. (Nekrolog in: Mizler’s Musikalische Bibliothek, IV, (1754), S.169f.)
Im Jahr 1721 heiratete Bach in Köthen wieder und zwar die Sängerin Anna Magdalena Wilcke. Auch nach seiner Berufung nach Leipzig im Jahr 1723 blieb Bach als Capellmeister ‚von Haus aus‘ (Spitta I, S.765) mit Köthen verbunden.
Es gibt einen Vermerk, der belegt, dass Bach am 18. Juli 1724 mit seiner zweiten Frau in Köthen auftrat: ‚Honorar für ein Gastspiel mit Anna Magdalena Bach in Köthen‘ (Dok II, 184).
Die geplante Aufführung der Choralkantate Was willst du dich betrüben (BWV 107) folgte dann am 23. Juli 1724.
Gedanken zum Abschluss
Das Lied erscheint mit genau demselben Text wie in der Kantate, einschließlich der letzten Strophe, im Halberstädtischen Gesangbuch, das in der lutherischen St. Agnus-Gemeinde in Köthen in Gebrauch war. Es erscheint dort im Abschnitt „Creutz- und Trostgesänge“, (S. 290). Der Inhalt des Liedes passt bemerkenswert gut zu Bachs eigenen Lebensereignissen zwischen 1720 und 1724. Es beschreibt den Trost, den man im Vertrauen auf Gott und in der Hingabe an seinen Willen finden kann, und wie der Mensch durch seine Gnade Erlösung aus der Not erfahren wird.
[Ich erlaube mir hier ein wenig persönliche Fantasie, unabhängig von der wissenschaftlichen Unterstützung. Ich kann mir vorstellen, dass Bach mit seiner zweiten Frau in jenen Tagen im Juli 1724 in Köthen weilte und sich möglicherweise an die tragischen Momente 4 Jahre zuvor erinnerte. Vielleicht besuchte er mit ihr das Grab von Maria Barbara. Und ich kann mir vorstellen, dass Bach im Frieden damit sein konnte, dass sein Leben nach dem traurigen Ereignis von 1720 wieder hoffnungsvoll geworden war. Dieses Lied interpretiert all das, einschließlich der schönen Danksagung in der letzten Strophe.]
Der Text des Schlusschorals bedarf keiner Erklärung, sondern spricht ganz für sich selbst.
Herr, gib, dass ich dein Ehre
Ja all mein Leben lang
Von Herzensgrund vermehre,
Dir sage Lob und Dank.
O Vater, Sohn und Geist,
Der du aus lauter Gnaden
Abwendest Not und Schaden,
Sei immerdar gepreist!
Die Choralkantate Was willst du dich betrüben trägt also nicht wie die anderen Lieder des Jahrgangs speziell zur Aufklärung über gefährdete oder kritisierte Lieder bei, sondern symbolisiert den kraftvollen Trost, den Lieder im Glaubensleben der Menschen bieten können. Und auch das war eine wichtige Aufgabe der Lieder-Freunde. Durfte deshalb für Bach dieses Lied mit seiner bekannten Melodie Von Gott will ich nicht lassen in seiner Sammlung von Choralkantaten nicht fehlen?
Lydia Vroegindeweij